Die Rückker zum gesunden Menschenverstand: das Urteil des europäischen Gerichtshoffes

Circle 99 – Krug 99 – Kreses 99
Sarajevo, Bosnia and Herzegovina
14 September 2023 – 39

Die Rückker zum gesunden Menschenverstand: das Urteil des europäischen Gerichtshoffes für Menschenrechte im Fall Kovačević

1. Der Verband unabhängiger Intellektueller „Kreis 99“ (Krug 99) bringt seine Zufriedenheit mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Kovačević zum Ausdruck. Ein besonderer Grund, bei dieser Gelegenheit unsere Zufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, besteht darin, dass dieses Urteil des EGMR die jahrzehntelangen Bemühungen von Kreis 99 bestätigte, die Werte der Zivilgesellschaft und des demokratischen Staates zu bekräftigen und ein rechtliches Umfeld für die politische Gleichheit aller Menschen in Bosnien und Herzegowina zu schaffen.
2. Die Umsetzung des Urteils ist von größter historischer Bedeutung für die jahrhundertealten Bemühungen, den bosnischen Staat in die Gemeinschaft moderner demokratischer Staaten in der Welt umzuwandeln und zu integrieren. Das Urteil markierte schließlich die Niederlage des Ethnonationalismus, einer widersprüchlichen und erfolglosen ethnokratischen Ordnung, und bestätigte die internationalen Grundsätze der Konvention über Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Der Weg ist frei, Hindernisse müssen überwunden werden!
3. Durch den Schutz des aktiven Wahlrechts bzw. des Rechts der Bürger, wählen zu können, wen sie wollen, und für alle staatlichen Institutionen auf Landesebene, kehrt die Souveränität in die Hände der Bürger zurück, die durch die Wahl ihrer politischen Vertreter endlich an jeder Entscheidung mitwirken und die Verantwortung aller für alles im eigenen Land einfordern können.
4. Es ist besonders wichtig, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, dass Bosnien und Herzegowina von der ethnischen Vertretung zum zivilen Prinzip der Vertretung in Regierungsinstitutionen übergehen muss, in Anbetracht der Tatsache, dass das ethnische Wahlsystem (constituent people) die Demokratie in Bosnien und Herzegowina untergräbt, die daher nicht vollständig, sondern begrenzt und eingeschränkt ist.
5. Kreis 99 betrachtet die Demokratie als eines der Grundprinzipien jeder modernen Gesellschaft und jedes modernen Staates und fordert alle Akteure der internationalen Gemeinschaft auf, sich auf die Notwendigkeit einer konsequenten Umsetzung des Kovačević-Urteils sowie anderer Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu konzentrieren. Wir fordern Druck auf alle inländischen politischen Akteure, um in Bosnien und Herzegowina eine vollständige Demokratie einzuführen, in der die Bürger ihre Regierung wählen und die abgesetzt wird, wenn sie nicht im Interesse aller Bürger arbeitet. Das derzeitige ethnische System der Wahl und Machtausübung garantiert die ewige Beteiligung ethnonationalistischer politischer Parteien und Strukturen an der Macht, die bisher nicht zum Wohle und Fortschritt aller Bürger beigetragen haben und auch in Zukunft nicht wirken können. Vielmehr wollen sie ihre bestehende systemische Position als unveränderliche Teilnehmer an allen künftigen Regierungen in Bosnien und Herzegowina einfrieren.
6. Wir fordern alle inländischen politischen Parteien und politischen Akteure auf, das Kovačević-Urteil umzusetzen, mit dem das politische System Bosnien und Herzegowinas an europäische Standards angeglichen wird und welches daher einen unumgänglichen Schritt zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen über die Mitgliedschaft Bosnien und Herzegowinas in der Europäischen Union darstellt. Die Aufgabe der Vertreter von Bosnien und Herzegowina vor dem EGMR muss darin bestehen, die Menschenrechte der Bürger zu schützen, und sie dürfen sich nicht gegen Menschenrechte durch eine mögliche Anfechtung des Urteils richten, was nur zu einer Verzögerung des Verfahrens führen kann.
7. Wir fordern die internationale Gemeinschaft (insbesondere Akteure in den Strukturen der Exekutive und Legislative, des EU-Parlaments, des US-Kongress, sowie in Nichtregierungsorganisationen, den Medien und der Öffentlichkeit) auf, die Politik der Durchsetzung von Verhandlungen und Zugeständnissen zu verhindern und aufzugeben. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss konsequent umgesetzt werden. Wir fordern die Ablehnung bloßer rhetorischer Unterstützung und politischer Mechanismen, die zu einem großen Teil die Ursache der aktuellen Situation und der Grund für die Urteilsfällung sind. Voraussetzungen dafür sind  gute Kenntnisse über die reale Situation in Bosnien und Herzegowina sowie das Fehlen einer Vermittlung durch den Erzeuger der Konfliktsituation und das Fehlen einer Aufrechterhaltung des Status quo.
8. Angesichts des bereits wachsenden Widerstands der Ethnonationalisten und der Bereitschaft, den Frieden zu zerstören, um die bestehende Situation und die erworbenen Privilegien zu bewahren, laden wir alle Bürger zum aktiven Widerstand im Namen der Zukunft und des Wohlstands von Bosnien und Herzegowina ein. Kreis 99 fordert die Einheit und Versammlung aller Organisationen, unabhängig von politischen und ideologischen Präferenzen, für eine gemeinsame Einschätzung und die Notwendigkeit, Massenwiderstand zu organisieren – eine Demonstration der Bürger für eine Zukunft in Frieden und für ein modernes und wohlhabendes Bosnien und Herzegowina.
9. Wir sind sehr zufrieden darüber, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zugunsten von drei Beschwerdeführern entschieden hat – im Fall von Jakob Finci, im Fall von Azra Zornić (passives Wahlrecht) und im Fall von Dr. Slaven Kovačević (aktives Wahlrecht der Bürger) – die während dreißig Jahren kontinuierlicher Arbeit und Aktivitäten der Organisation auch Mitglieder des Kreises 99 sind.  
Schlussfolgerungen aus der Sitzung des Kreises 99, Referenten: prof. dr. Zlatko Hadžidedić, prof. dr. Senadin Lavić, prof.dr. Hazim Bašić, Berufungsklägerin Azra Zornić, Berufungskläger dr. Slaven Kovačević.
Adil Kulenović, President  
 
Association of Independent Intellectuals – Circle 99 (Bosnian: Krug 99), a leading Bosnian think-tank, was established in Sarajevo in 1993, in the midst of the Bosnian war (1992-1995), while the capital was under siege. Circle 99 provides a platform to bring together intellectuals of various professional and ethnic identities; university professors, members of the Academy of Sciences and Arts of Bosnia and Herzegovina, artists, journalists, entrepreneurs, diplomats, and other prominent figures from Bosnia and from abroad. Multidisciplinary discussions and initiatives are held each Sunday throughout the academic year, in the form of regular sessions about politics, science, education, culture, economy, and other societal issues. The overall goal is to sensitize the public towards a democratic transformation, achieving and maintaining peace, and integration of modern Bosnia into the community of countries fostering liberal democracy. Circle 99 has been declared an organization of special significance for the city of Sarajevo.